Dungeons & Dragons 1974: Ein Regelwerk ohne formelle Attributsproben.
Dungeons & Dragons erschien erstmals 1974 in einer Auflage von 1.000 Stück – jede Box gefüllt mit drei Heften, die "Little Brown Books" von Gary Gygax & Dave Arneson.
Wer sich diese Regeln heute durchliest, kann zu dem Schluss gelangen, dass das Regelwerk nicht komplett ist. So fehlen u.a. formelle Regeln für Attributsproben, wie wir sie heute kennen. Es wird zwar mit Attributswerten (3–18) gearbeitet, aber diese dienen hauptsächlich der Modifikation von Trefferpunkten oder Angriffswürfen beim Fernkampf, etc., nicht für allgemeine "Checks".
Kurz gesagt: Attributsproben als eigene Mechanik existierten 1974 schlichtweg nicht. Das Fehlen erklärt sich am ehesten daraus, dass Gygax einheitliche Mechaniken ablehnte. Er war der Meinung, dass die Spielleitung durch Logik, Intuition und Tabellen Entscheidungen treffen solle – nicht durch allgemeine Würfelregeln. Überhaupt: Gewürfelt wurde selten.
„Der Spielleiter sollte niemals würfeln, wenn gesunder Menschenverstand ausreicht“, brachte Gygax diesen Gedankenansatz auf den Punkt. War es doch einmal notwendig zu würfeln, war „Rulings, not rules“ das Motto – improvisierte Entscheidungen über festgelegte Regeln. Sogenannte Hausregeln waren also von Beginn an Teil des Hobbies.
The Dragon
Unlängst blätterte ich einige Ausgaben von The Dragon durch (sämtliche Ausgaben gibt's gesammelt als PDF im Internet Archive). Das von TSR herausgegebene Magazin, Erstausgabe: Juni 1976, war u.a. ein Forum, um über Regeln und Regelergänzungen zu diskutieren.
Gleich in der ersten Ausgabe fragt ein Wesley D. Ives auf Seite 7, wie die Spielleitung (er benutzt den damals im Englischen geläufigen Ausdruck "referee") auf faire Weise feststellen kann, ob ein SC eine gewünschte Handlung erfolgreich ausführt oder scheitert?
Für gewöhnlich würde die SL, abgeleitet vom Wert des Attributs, eine prozentuale Chance auf Erfolg festlegen. Diese Ableitung sei aber nicht mehr als eine ungefähre Einschätzung des Referees, der keine feste Formel benutzt, sondern – quasi aus einem Bauchgefühl heraus – den Attributswert in einen Prozentwert übersetzt.
Ives schlägt vor, ein stärker standardisiertes System zu nutzen, dessen Leitlinien er dann auch gleich präsentiert. Kern seines Systems ist die folgende Tabelle:
01-20: 4-seitig
21-40: 6-seitig
41-60: 8-seitig
61-80: 10-seitig
81-100: 12-seitig
Will ein SC eine Aktion durchführen, die auf einem Attribut beruht, würfelt er W100 und addiert den Wert des jeweiligen Attributs. Das Ergebnis vergleicht er mit der linken Spalte der Tabelle und liest daraus ab, welchen Würfel er als nächstes rollt (W4, W6, W8, W10 oder W12).
Das Ergebnis dieses Würfelwurfs multipliziert er dann mit dem Attributwert und voila! – das Produkt entspricht der prozentualen Chance mit der die geplante Aktion gelingen kann.
Ives bringt zur Veranschaulichung ein konkretes Beispiel mit Grod, dem Kämpfer. Seine Werte sind STÄ-17; INT-9; WEI-5; KON-14; GES-14; CHA-12. Grods Gruppe wurde von einem Paar Bugbears angegriffen. Grod möchte, dass drei seiner Mietlinge die Bugbears aufhalten, während er den Felsbrocken wegrollt, der den Ausgang des Verlieses blockiert.
Die Frage lautet nun, werden die Mietlinge kämpfen? Die Antwort liefert eine Probe basierend auf Grods Wert in Charaisma: Der Wurf am W100 zeigt eine 42, dazu wird Grods Charisma (12) addiert, was 54 ergibt. Grod würfelt also, laut Tabelle, mit einem achtseitigen Würfel und erzielt eine Sieben. Es besteht also eine Chance von 7 x 12 (Ergebnis des Wurfes mal Grods Charisma) oder 84%, dass die Mietlinge kämpfen werden.
Modular und fragmentiert
Ives schlägt also einen mehrstufigen Mechanismus mit Tabellen, zwei Würfen und Multiplikation vor – alles für eine einzige Probe. Charmant? Vielleicht. Übersichtlich? Kaum. Warum also so kompliziert? Die Antwort liegt wohl in einer Kombination aus historischem Kontext, Spieldesignphilosophie, Technologie der Zeit und dem Werdegang der Designer selbst.
Die erste Version von D&D ging aus Tabletop-Wargaming hervor, insbesondere aus dem Miniaturspiel Chainmail. Die Spieler und Designer waren daher mit komplexen Rechenoperationen, Tabellen und Wahrscheinlichkeiten aus Kriegsspielen vertraut. Was uns heute unnötig kompliziert erscheinen mag, was damals für viele Wargamer gängige Praxis.
Auch dass die von Ives beschriebene Würfelprozedur sich von den übrigen, im Regelwerk beschriebenen Mechaniken deutlich unterscheidet, passt ins Bild. Denn im Gegensatz zu vereinheitlichten Würfelprozeduren, wie wir sie aus modernen Spielen kennen, gab es in den frühen Versionen von D&D unterschiedliche Mechaniken nebeneinander.
Eine einfache Aktion wie das Öffnen einer Tür erforderte zB einen W6-Wurf, bei dem die Figur bei 1 oder 2 Erfolg hatte. Es wurde nicht mit dem Stärkewert direkt gearbeitet. Beim Dieb hatten Fähigkeiten wie „Schleichen“ oder „Schlösser knacken“ eigene Prozentwerte, die pro Stufe leicht stiegen. Diese Werte waren völlig getrennt von Attributen – selbst wenn Geschicklichkeit thematisch passte.
Es gab also kein einheitliches System: Stattdessen war das Design modular und fragmentiert. Das Beispiel aus The Dragon fügt sich nahtlos in diese Designphilosophie ein.
Abgesehen davon sollte man auch den technologischen Aspekt nicht außer Acht lassen: W20 waren damals selten und teuer. Die meisten Spieler benutzten daher W6, improvisierten mit nummerierten Zetteln oder nutzten Prozentwürfe (2W10), die ihnen aus den Wargames vertraut waren.
Die fehlenden Attributsproben und die komplizierten Alternativen der Frühzeit lagen daher weniger an einem Mangel an Vorstellungskraft, sondern an der Herkunft des Spiels aus der Kriegsspieltradition, dem hohen Vertrauen in improvisierende Spielleiter und der Materiallage der 1970er.
Erst mit der Verbreitung des W20 als Standardwürfel, dem Wunsch nach einheitlicheren Systemen (ab Basic D&D / AD&D 2e) und dem Einfluss moderner Game-Design-Ideen kam es Schritt für Schritt zu Vereinfachungen.