Es war Anfang der 90er, als ich mir in irgendeinem Laden in Würzburg, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, mein erstes Rollenspiel-Abenteuer kaufte (DSA: Schatten über Travias Haus).
Es wäre natürlich klug gewesen, mit dem Grundregelwerk zu starten, aber dafür reichte mein Taschengeld nicht. Dass das Abenteuer außerdem für Helden der Stufe 12 bis 16 geschrieben war, erleichterte mir den Einstieg ins Hobby auch nicht unbedingt.
Aber das spielte alles keine Rolle. Als ich das Ding aufschlug und zu lesen begann, wusste ich sofort, dass sich die Investition gelohnt hat. Endgültige Klarheit verschaffte ich mir einige Tage später, als ich mir bei einem Bekannten die Grundregeln ausborgte, um sie zu kopieren (ja, so war das damals in den 90ern).
Was mich an dem Konzept Pen&Paper von Beginn an faszinierte, war die Vorstellung, dass in dieser Spielwelt alles möglich ist. Es gab keine eingrenzenden Spielbretter, keine begrenzte Anzahl an Spielsteinen, es gab nicht einmal ein Spielende, weil auf das eine Abenteuer ein nächstes folgte und immer so weiter.
Die Faszination für dieses Spiel hat mich mit Unterbrechungen bis heute nicht losgelassen. 2019 spielte ich meine erste Online-Runde. War ich zunächst skeptisch, halte ich die Spielrunden im virtuellen Raum mittlerweile für einen würdigen Ersatz analoger Runden. Zumal ich auf diese Weise eine Menge neuer Freunde im Hobby kennenlernen konnte. Allerdings beobachte ich dabei eine Tendenz, die mich nachdenklich stimmt.
Mehr Grafik, weniger Spielfreiheit?
Virtuelle Tabletops (VTT) gab es schon lange vor Corona (Roll20 ist seit 2012 am Markt). Das Virus trug lediglich dazu bei, dass das virtuelle Spielen an Bekanntheit und Beliebtheit gewann. Mit dem Boom der VTTs wurde auch ihr Erscheinungsbild ständig aufpoliert.
Die Auswahl an digitalen Spielfiguren und Spielbrettern wächst ständig. Diverse Anbieter werben mit detailgetreuen 3D-Landschaften, animierten Figuren und dutzenden Battlemaps für alle erdenklichen Settings. Tablecraft (aktuell auf Kickstarter) verkauft sich als „ein neues, digitales TTRPG“. Dabei hat jeder Spieler einen Laptop vor sich stehen auf dem das gesamte Rollenspiel abläuft, mit Tonnen an Grafiken, die die Spielleitung je nach Szene einblendet.
Mit dem Erscheinen von One D&D wird dieser Trend einen weiteren Boost erleben, hat WotC doch ein VTT mit einer umfangreichen digitalen Bibliothek angekündigt, die alles bisherige in den Schatten stellen soll.
Doch was bedeutet das für das Spielgefühl, das ich eingangs beschrieben habe? Kann eine Spielwelt, wie Pen&Paper sie eröffnet, bei einer Übertragung in ein Computerspiel-ähnliches Medium ihre Grenzenlosigkeit beibehalten? Ich glaube nicht.
Grafik frisst Kreativität
Als D&D in den 70ern das Licht der Welt erblickte, war es u.a. deshalb so erfolgreich, weil mit diesem neuen Spielkonzept eine Grenze durchbrochen wurde: Plötzlich schien im Rahmen eines lockeren Regelwerkes alles möglich, die Grenzen des Spiels waren die Grenzen der Phantasie von Spielleitung und Spielern.
Indem die grafische Darstellung bei (Online)-Spielen immer mehr an Bedeutung gewinnt, droht sich das Spiel vom Grenzenlosen zurück zum Begrenzten zu entwickeln. Denn in jeder digitalen Bibliothek, mag sie auch noch so umfangreich sein, gibt es nur eine endliche Anzahl unterschiedlicher Gebäudetypen, Battlemaps und Figuren.
Die Gefahr ist groß, dass die von diversen VTTs angebotenen Grafiken und Tools über kurz oder lang beeinflussen, wie und welche Abenteuer geschrieben werden. D&D One und andere werden bei VTT-Plattform bald Standards vorgeben. Will ich diesen entsprechen, muss ich mein Abenteuer derart gestalten, dass möglichst alle Orte und Figuren grafisch abbildbar sind (vor allem, wenn ich mein Abenteuer verkaufen möchte und es daher den Erwartungen eines VTT-affinen Publikums entsprechen soll).
Wir kennen ähnliche Phänomene von den Sozialen Medien, die uns beibrachten (manche sagen: aufzwangen) unsere Mitteilungen auf wenige Worte zu beschränken. Will ich in Zukunft ein grafisch ansprechendes Abenteuer für VTT schreiben, werde ich mich an der Ausstattung diverser VTT-Bibliotheken orientieren müssen. Die Alternative sind Platzhaltergrafiken für Orte und Figuren, die eigentlich ganz anders aussehen sollen - auch nicht befriedigend.
Ebenso laufen ich als Spieler Gefahr, mich in meinen Lösungsansätzen von der digital aufbereiteten Welt beeinflussen zu lassen. Nehme ich Dungeonmauern, Hausdächer, diverses Mobiliar oder Bäume als statische Elemente wahr (was sie in der digitalen Darstellung meist sind), werde ich als Spieler möglicherweise nicht auf die Idee kommen, diese einzureißen, anzuzünden, umzuhacken oder zu verschieben. Das oder anderer Klamauk, der den Spielern bei Pen&Paper immer wieder in den Sinn kommt, um eine Situation zu lösen, gelingt grafisch nur, wenn es davor entsprechend programmiert wurde. Anders als beim Theater of the Mind bergen grafisch fixierte Welten daher die Gefahr, die Kreativität der Spieler in der Kommunikation mit ihrer Umwelt einzuschränken.
Wie viel Grafik braucht ihr in euren Spielrunden?
Versteht mich nicht falsch. Online spielen zu können, ist ein Segen. Die virtuellen Spieltische haben mir nicht nur in Corona-Zeiten erlaubt, meinem Hobby weiter nachzugehen. Sie eröffneten mir auch die Möglichkeit, mich unabhängig von der geographischen Verortung mit Menschen zu treffen und gemeinsam zu spielen. Ich möchte das nicht missen.
Auch weiß ich aus eigener Erfahrung, dass Battlemaps und Minis absolut ihre Berechtigung haben und hilfreich sind, wenn es darum geht, etwa in Kämpfen den Überblick zu behalten. Ganz abgesehen von der wunderbaren Fog-of-War Funktion bei VTT, die den Spielern das allzuoft mühsame Zeichnen von Dungeon-Karten abnimmt.
Die Frage ist nur, wie viel grafisches Detail braucht es tatsächlich und ab wann wird es erdrückend, weil das Rollenspiel in die Grenzen eines Computerspiels gepresst wird.
Ob die Digitalisierung dem Spielgefühl von Pen&Paper letztendlich zuträglich ist, oder es zerstört, muss jeder für sich entscheiden. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass die Idee, die das Rollenspiel einst so erfolgreich machte, jene des grenzenlosen Spielens war.
Welche Erfahrungn habt ihr mit VTTs gemacht? Wie viel/wie wenig Grafik braucht ihr in euren Spielrunden?
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