Als 1970 die erste Ausgabe von Western Gunfights Wargame Rules erschien, sollte es noch vier Jahre dauern, bis Dungeons & Dragons das Licht der Welt erblickte. Und doch weist dieses Regelwerk bereits zahlreiche Merkmale dessen auf, was später für Rollenspiele charakteristisch werden sollte. Insofern könnte man Western Gunfights als Bindeglied zwischen Kriegs- und Rollenspiel bezeichnen.
Alles begann in den späten 60ern in Bristol, England, als eine Gruppe Wargamer um Steve Curtis ein paar Spielregeln aufschrieben, um die berühmte Schießerei von Tombstone nachzustellen. Doch dieser One-Shot wuchs rasch zu einem umfangreichen Regelwerk heran, das sie 1970 publizierten – ein neues Genre im Wargaming war geboren.
Trapper und Cowhands statt und Kämpfer und Magier
Western Gunfights steht klar in der Tradition der damals weit verbreiteten Wargames. Und doch weicht es von der üblichen Spielweise ab: Nicht Schlachten zwischen Armeen sind der Kern des Spiels, sondern der Skirmish - Scharmützel zwischen Cowboys (Cowhands), Banditen, Soldaten der US-Army und Native Americans (im Buch als „Indians“ bezeichnet).
Bei einem Skirmish-Game liegt die Aufmerksamkeit ganz auf den einzelnen Spielfiguren, von denen sich insgesamt nicht viel mehr als 15 bis 20 am Spieltisch tummeln. Jede dieser Figuren wird durch Attribute definiert. Sie sind gut oder schlecht im Zielen, reagieren auf Beschuss, können sich schnell oder langsam bewegen, usw. Diese Attribute konnten sich über die Kampagnen hinweg verbessern – die Figuren in drei Stufen vom Neuling bis zum Veteran aufsteigen. Geleitet wurde das Spiel von einem Schiedsrichter (Umpire), der sich Szenarien ausdachte und, je nach Situation, von den Spielern Attribut-Proben einforderte.
Zusätzlich zu den Attributen gab es Skills wie Handfeuerwaffen, Gewehre, Bögen und Nahkampf. In jedem Skill konnte die Figur einen Wert zwischen 1 (Katastrophal) bis 10 (Übermenschlich) haben. Je nach dem gab es bei den Proben, die mit einem W100 gewürfelt wurden, Zu- oder Abschläge.
Insgesamt ist das Spiel für heutige Verhältnisse sehr Tabellen-lastig. Da muss viel geblättert, addiert und subtrahiert werden. Dennoch: In der zweiten Edition des Regelwerks von 1972 steht zu lesen, was stark an das OSR-Credo „rulings over rules“ erinnert:
"Jede Situation, die nicht speziell von den Regeln abgedeckt wird (und es wird viele geben), sollte durch Überlegungen wie "ist es physisch möglich und wie lange würde es dauern?" und "ist es logisch?" gelöst werden."
(Zitat von Jon Peterson's Blog „Playing at the World“)
Rollenspiel & Türen
In seinem Buch „The Elusive Shift“ analysiert Jon Peterson scharfsinnig die Entwicklung vom Wargame hin zum Rollenspiel. Western Gunfights spielt dabei eine entscheidende Rolle. So stand im Wargamer's Newsletter, einem britischen Monatsmagazin für Wargamer, im Jahr 1973 in einem Kommentar zu Western Gunfights zu lesen:
„Charaktere mit einem eigenen Leben zu haben, die sich in bestimmten Situationen befinden und sich dementsprechend verhalten (im Original: „behave in character“), anstatt einfach nur in ihrem eigenen Interesse (Anm.: im Interesse der Spieler) zu handeln, trägt sehr zum Spielvergnügen bei.“
Ein Jahr vor Erscheinen von D&D ist also bereits das „in-Character“-Spiel etabliert. Detail am Rande: Wie bei D&D wird auch bei Western Gunfights Türen eine besondere Rolle zugesprochen. Sie können offen, geschlossen oder verschlossen sein. Um die Spannung zu erhöhen, schlägt das Regelwerk vor, den Zustand einer Tür per Würfelwurf zu ermitteln. Eine verschlossene Tür kann aufgebrochen, oder das Schloss aufgeschossen werden. Dietriche, um sie zu öffnen, sind allerdings nicht vorgesehen. Das blieb D&D vorbehalten.
Der Anfang von etwas
Die Verschiebung vom Wargame hin zum Rollenspiel hat also schon vor der ersten Publikation von D&D 1974 eingesetzt. Das soll nicht heißen, dass Arneson und Gygax von Curtis abgeschrieben haben. Es zeigt aber, dass die Verschiebung vom traditionellen Wargame hin zu einem Spiel, bei dem die einzelnen Charaktere und deren Geschichte im Vordergrund stehen, bereits eine breitere Bewegung in den frühen 70ern war.
Niederschlag fand diese Bewegung in zeitgenössischen Magazinen und Newslettern, wo sich die Fangemeinde der Wargames die Frage stellte, ob diese Skirmish-Games überhaupt noch als Wargames zu bezeichnen waren. Der Spielerschaft dämmerte, dass hier etwas Neues am Entstehen war.
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