Wie viel Rollenspiel war in der ersten Version von Dungeons&Dragons enthalten und was verstanden die Spieler darunter? Ein Blick auf die Anfänge des Rollenspiel-Hobbys.
Das 1974 erschienene D&D gilt als erstes Rollenspiel. Sieht man sich die Originalausgabe von damals jedoch genau an, wird man den Begriff Rollenspiel in keinem der drei Bände entdecken. Der Untertitel von Dungeons&Dragons lautete "Rules for Fantastic Medieval Wargames Campaigns“ und verweist damit auf jene Tradition, aus der heraus D&D sich entwickelt hatte: Dem Kriegsspiel mit Miniaturen.
Gary Gygax war ein langjähriger Wargamer bevor er Dungeons&Dragons publizierte und auch die ersten Spieler kamen zum großen Teil aus der Wargaming-Community. Das ist wichtig, um die Debatte rund um D&D zu verstehen, wie sie sich in den Fan-Zines der 70er entspann. Es dauerte, bis sich das Verständnis von Spiel, wie die Community es aus Wargames kannte, zu etwas Neuem verschob, das uns heute unter dem Begriff Rollenspiel bekannt ist.
Zahlreiche Elemente aus D&D waren Wargamern bereits bekannt. So wurde die Idee, wonach die Spieler nicht ganze Armee-Einheiten, sondern einzelne Figuren steuern, bereits bei Michael Korns' 1966 erschienenem „Modern War in Miniature“ umgesetzt.
Vom "Modern War" zum Dungeon Crawl
Zahlreiche Elemente aus D&D waren Wargamern bereits bekannt. So wurde die Idee, wonach die Spieler nicht ganze Armee-Einheiten, sondern einzelne Figuren steuern, bereits bei Michael Korns' 1966 erschienenem „Modern War in Miniature“ umgesetzt.
Bei diesem Kriegsspiel treten wie gewohnt zwei Spieler gegeneinander an. Allerdings haben die Spieler nicht, wie bei Wargames üblich, den gesamten Überblick über Anzahl und Stärke der eigenen und gegnerischen Einheiten. Vielmehr wissen sie nur, was die von ihnen gesteuerte Spielfigur in jedem Augenblick der Schlacht wissen kann.
Das ging so weit, dass Spieler auch über exakte Wirkung von Waffen oder Geschwindigkeit von Fahrzeugen nicht Bescheid wussten. Die Spieler beschrieben, welche Aktionen ihre Soldaten-Figur durchführte, der Spielleiter berechnete anhand (geheimer) Tabellen und Formeln den Ausgang.
Der folgende Dialog aus dem Regelwerk von "Modern War in Miniature" beschreibt ein Gefecht zwischen deutschen und US-amerikanischen Soldaten und zeigt, wie die Kommunikation zwischen Spielern und Spielleiter verlief:
Player: I'm picking up my sub-machine gun and my granates and running over to the ditch beside the bridge. I want to keep looking for the American in the houses while I'm running.Judge: There he is again! He just stuck his head around the corner of that white building around 40 meters in front of you. Here, he's looking around again.P: Am I in the ditch now?J: Yes, you've been here about 2 seconds now.P: Alright, then I'm firing my Schmeisser at him in a long burst.J: THERE IS A SUB-MACHINE GUN FIRING ON THE BOARD.J: Your Schmeisser is kicking chunks out of the edge of the building all around him ... It's hard to say wether you hit him or wether he pulled his head back.J: AN M-1 HAS FIRED ON THE BOARD.J: That rifle round hit you in the side. It knocked you a little farther into the ditch; you're bleeding from the mouth too.J: You can see who did it now. The American is on your left about 12 meters away running at you with his bayonet.P: Can I still move?J: Yes, but you are almost unconscious.P: I'm turning around and firing the rest of my Schmeisser's clip into him.J: THERE IS A SCHMEISSER FIRING ON THE BOARD.J: He's coming up fast, your bullets are jerking around in an arc towards him as you turn. Seven meters, four meters, one meter. I'm afraid you're dead.
Im Hintergrund des Dialogs berechnete der SL den Schaden von Gewehr- und Pistolenkugeln, die Trefferchance und die Geschwindigkeit des US-Soldaten, der auf den Deutschen zustürmt. Eine Spielrunde entsprach dabei zwei Sekunden.
Das alles erinnert schon ziemlich stark an das, was Gygax acht Jahre später in seinem D&D-Regelwerk präsentierte. Doch anders als Korns' Regelwerk, das eine ganz gute Vorstellung davon liefert, wie das Spiel in der Praxis ablief, blieb Gygax bei seinen Regeln an vielen Stellen vage.
Vielmehr ermunterte er Spieler und Spielleiterinnen aus dem gegebenen Regelgerüst zu machen, was ihnen beliebte: „... es sind Richtlinien, aus denen jeder seine eigene fantastisch-mittelalterliche Kampagne erschaffen kann", schrieb Gygax im Vorwort des ersten Bandes. "[Die Richtlinien] liefern den Rahmen, innerhalb dessen sich ein sehr einfaches oder enorm komplexes Spiel basteln lässt ...“
Spielleiter: Gegner oder neutraler Schiedsrichter?
Das lose D&D-Regelwerk ließ viele Fragen offen. Ein Brennpunkt zahlreicher Debatten war der Spielleiter und dessen Rolle im Spiel. Denn anders als bei Wargames vermittelte er nicht zwischen zwei gegnerischen Parteien, sondern verwaltete die Gegner der Spieler, die gemeinsam und nicht gegeneinander antraten. Waren Spielleiter und Spieler daher Gegner? Und falls ja, wie hart durfte der Spielleiter bzw. wie nachgiebig musste er sein?
Was für uns heute klar scheint (der SL sollte möglichst neutral sein), wurde anfangs nicht immer so umgesetzt. Der Autor Jon Stevenson berichtet in seinem Buch "The Elusive Shift" von US-amerikanischen Clubs der 70er, in denen Spielleiter blutige Gemetzel unter den SC anrichteten und sich mit den hohen Ausfallquoten bei Spielerfiguren brüsteten, die sich in ihre Dungeons wagten. Für die geplagten Spieler war es daher vielerorts üblich, NSC zu engagieren, die alle möglichen verdächtigen Knöpfe und Hebel drückten, um die Hauptcharaktere vor den tödlichen Fallen zu schützen.
Berühmt ist Gary Gygax' Tomb of Horrors, das er bei der ersten Origins Convention 1975 in Colombo vorstellte. Das Abenteuer war ein Spießrutenlauf aus willkürlichen Fallen, einstürzenden Gewölben, Fallgruben, tödlichen Giftwolken und unvorhersehbaren Hinterhalten, wie Teilnehmer berichten. Einer der Spieler soll frustriert über Gygax' Stil das Spiel als Dungeon-Roulette bezeichnet haben.
Story vs Regelwerk
Eine andere Frage, die die frühe Community umtrieb, war, wieviel Story und wie viel Regelwerk das Spiel brauchte.
Die einen wollten durch das Spiel eine Geschichte erleben, die möglichst nicht durch Regeln oder zu viel Würfelei aufgehalten werden sollte. Die anderen bevorzugten ein mehr strategisch ausgerichtetes Spiel. Das sei nur möglich, so die Vertreter dieses Stils, wenn Spieler die Regeln kannten und Einsicht in die Stärken und Schwächen ihrer Spielfiguren hatten.
Es gab Spielrunden, bei denen der Spielleiter alle Würfe anstelle der Spieler rollte und die Ergebnisse für sich behielt. Das schloss auch die Verwaltung der Lebensenergie der Spielfiguren mit ein. Die Spieler verfügten daher nur über jene Informationen, über die auch deren Charaktere zum gegebenen Zeitpunkt verfügten (der Spieler wusste daher nur, dass seine Spielfigur sich schwach fühlt und stark blutet, nicht aber, dass sie nur mehr 3 Lebenspunkte besitzt).
Es gab Spielrunden, bei denen der Spielleiter alle Würfe anstelle der Spieler rollte und die Ergebnisse für sich behielt. Das schloss auch die Verwaltung der Lebensenergie der Spielfiguren mit ein. Die Spieler verfügten daher nur über jene Informationen, über die auch deren Charaktere zum gegebenen Zeitpunkt verfügten (der Spieler wusste daher nur, dass seine Spielfigur sich schwach fühlt und stark blutet, nicht aber, dass sie nur mehr 3 Lebenspunkte besitzt).
Das Gegenteil davon waren jene Spieler, die D&D in der Tradition von Wargames als Simulation spielten. Sie kannten nicht nur die Würfelmechanismen im Detail und wussten zu jeder Zeit über die Werte ihrer Figuren Bescheid, sondern auch über jene ihrer Gegner, inklusive deren Lebenspunkte und magische Eigenschaften. Ihr Argument war, dass nur durch Einsicht in Regeln und Würfelmechanismen Risiken für die Spieler abschätzbar seien und im Sinne eines strategischen Spiels sinnvolle Entscheidungen getroffen werden können.
Das D&D Regelwerk ließe beide Zugänge zu. Bis heute sind diese Richtungen im Hobby vertreten.
Neue (alte) Fragen
1977 tauchte der Begriff Rollenspiel schließlich im (etwas sperrigen) Titel des neuen Dungeons&Dragons Basic Set auf: Rules for Fantastical Medieval Role Playing Adventure Game Campaign.
Dieses überarbeitete Regelwerk brachte mehr Klarheit und füllte einige der Lücken aus der ersten Version von D&D. Im Laufe der Jahre etablierte sich der Spielleiter als neutraler Moderator und die Sterblichkeit in den Dungeons ging deutlich zurück; die Gegner wurden den Stufen der Spielfiguren angepasst, womit auch die NSC an Bedeutung verloren (Ein Gegensteuern zu diesem Trend erlebt die Szene seit Mitte der 0er Jahre mit dem Aufkommen der OSR).
Zahlreiche der heute im Hobby diskutierten Fragen sind eigentlich sehr alte, die auf die Anfänge des Hobbys zurückgehen und immer wieder neu beantwortet werden: Wie autoritär darf/soll der Spielleiter sein? Wie viel SL braucht ein Spiel überhaupt? Soll mehr Wert auf Würfelei und Werte-Optimierung, oder auf Rollenspiel gelegt werden? Geht's auch ganz ohne Würfel?
Endgültig zu klären werden diese und ähnliche Fragen nie sein. Vielmehr wird sie jede Spielergeneration für sich beantworten müssen. Und das ist gut so. Denn genau diese Unschärfe, wie sie seit dem ersten D&D-Regelwerk von Gary Gygax und Dave Arneson existiert, ist Kern der Kreativität des Hobbys.
You are not authorised to post comments.
Comments will undergo moderation before they get published.